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polarisiert

Heute war es sehr interessant. Ein Kollege hat seine Vorlesung von den Studierenden evaluieren lassen, und einige Kommentare in den Freitextfeldern waren für mich sehr spannend. Ich wurde darin nämlich ein paar Male erwähnt.

Die Erklärung dafür ist schnell gegeben: Ich habe meinen Kollegen etwa zur Hälfte des Semesters an einem Termin vertreten. Ein wenig verwundert war ich dennoch darüber, dass gleich mehrere darauf eingegangen sind und mich offenbar noch im Gedächtnis hatten. Wirklich erstaunt war ich aber über die Bandbreite der Bemerkungen.

Für einen war ich einfach nur ätzend, für einen anderen der Aushilfslehrer, der sich nicht einmal vorgestellt hat – das habe ich anscheinend im Eifer des Gefechts vergessen, in der Tat nicht schön. Lerneffekt. Aus Sicht eines weiteren Studierenden habe ich aber die beste Veranstaltung im ganzen Semester abgeliefert, für jemand anderes war es endlich mal weniger abstrakt, dafür praktisch und anschaulich.

Was fange ich denn jetzt damit an? Allen kann man es ja bekanntlich nicht recht machen, aber ätzend?

Der Flipped Classroom: Haben wir einfach keine Lust?

Dass ich kein großer Freund der monokulturartigen, klassischen Vorlesung an Universitäten bin, dürfte aufmerksamen Lesern dieses Blogs nicht entgangen sein. Da werden Studierende in einen Raum zusammengebracht, wo sie von- und miteinander lernen könnten, müssen dann aber still sein und in den Kinomodus schalten. Vorne spielt die Musik. In einem festen Tempo, in einem festen Rhytmus, zu einer festen Zeit. Wer dann nicht da ist, geht leer aus. Wer es gerne langsamer oder schneller, häppchenweise oder wiederholt hätte, hat Pech gehabt.

Wieso sollte man diese kostbare Zeit vergeuden, in der sich Lehrende und Studierende tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen? Wenn ich ausschließlich Input zu liefern habe, kann ich den auch in ein Video verpacken und vor einem Termin zur Verfügung stellen. Das kann man sich beliebig oft zur gewünschten Zeit anschauen. In der Veranstaltung selbst kann ich dann darauf aufbauen und damit richtig arbeiten, Fragen dazu beantworten oder über bestimmte Aspekte diskutieren. Statt in der Uni den Stoff präsentiert zu bekommen und ihn zu Hause zu üben und zu vertiefen, wird der Spieß einfach umgedreht. Das wird daher auch Flipped Classroom genannt.

Die Idee ist mal wieder nicht neu, aber trotzdem weit davon entfernt, weit verbreitet zu sein. In meinem eigenen Studium nutzte ein Informatikprofessor aufbereitete Videos seiner Vorlesungsinhalte inklusive passender Einspieler zu besonderen Aspekten, etwa Bilder, die er im Silicon Valley gemacht hatte. Die Präsenzveranstaltungen bauten dann auf dem auf, was in den Videos schon vorgestellt wurde. Nach demselben Prinzip wird etwa in der Fachhochschule Osnabrück mit Podcasts vorgegangen.

Etwas bekannter wurde das Konzept aber jetzt – wie sollte es anders sein – durch einen Lehrer in den USA: Salman Khan hat hunderte von Videos in der Khan Academy zur Verfügung gestellt, einer Lernumgebung, in der man selbständig Lektionen bearbeiten und seine Fortschritte festhalten kann. Khan erklärt das ausführlicher in einem TEDx-Vortrag.

Warum kommt so etwas in Deutschland eigentlich nicht in die Gänge? Fehlt es an Geld? Um das Konzept überhaupt zu nutzen, braucht es eigentlich nicht viel. Christian Spannagel etwa stellt die Videos seiner umgedrehten Mathematikvorlesung einfach bei YouTube ein. Mit einer speziellen Plattform gäbe zwar sicher noch einen Zusatznutzen, aber machbar ist es auch so. Jetzt. Haben wir vielleicht einfach keine Lust dazu? Lust dazu, uns selbst ein wenig umzuwöhnen und ein paar Anstrengungen auf uns zu nehmen? Ich denke, da kommen wir der Sache schon näher. Ich kann nun zwar nur von Professoren sprechen, nicht von Lehrern, aber von deren Seite habe ich schon verschiedene Vorbehalte gehört.

1. Der Reputationsbewusste
„Was, wenn ich vielleicht einmal einen Fehler mache? Dann können das ja auch andere Professoren mitbekommen.“ Sehen wir einmal davon ab, dass man die Videos nicht zwangsläufig der ganzen Welt zugänglich machen muss: Hier fürchtet jemand um seine Reputation. Kollegen könnten sich ja über eventuelle Pannen lustig machen. Studierende werden dazu angehalten, sich nicht vor Fehlern zu fürchten, selbst wollen einige Professoren aber doch lieber ein makelloses Scheinbild von sich präsentieren.

2. Der Besitzstandswahrer
Ein anderer Professor fürchtete, Politiker könnten an den Arbeitsplätzen seiner Zunft sägen, weil die Aufzeichnungen sie überflüssig machen könnten. Wäre das denn möglich? So ist es jedenfalls nicht gedacht, denn die Videos sollen die Präsenzzeit nicht ersetzen, sondern ergänzen. Aber dann müssen Professoren natürlich wirklich gut lehren statt nur 90-Minuten-Monologe zu halten. In den Worten von Gunter Dueck hieße das, der Commodity-Teil kann durch Dienste im Internet erbracht werden und der Premium-Teil bleibt übrig, für den man aber professionell intelligent sein muss. Ist der Professor das nicht und bietet auch nichts, was über die Präsentation von Inhalten hinausginge, warum sollte man das nicht mit Videos abdecken? Hier kommt jedoch noch eine Befürchtung ins Spiel: Selbst wenn ein Professor professionell intelligent wäre und richtig etwas auf dem Kasten hätte, würden Politiker das nicht sehen und die Videos als vollwertigen Ersatz ansehen – und auf lange Sicht Stellen abbauen.

3. Der Gekränkte
Von einem anderen Professor habe ich gehört, er hätte seine Vorlesungen aufgezeichnet und nachträglich ins Netz gestellt. Das ist zwar nicht die Idee des Flipped Classroom, aber dennoch entstehen schon hier Vorbehalte gegen Videos. Hier kam es nämlich dazu, dass kaum noch jemand die Veranstaltung besuchte. Das ist eigentlich nicht tragisch, denn mit weniger Leuten lässt sich besser interagieren und Studierende sind erwachsene Menschen und können selbst entscheiden, ob sie die Gelegenheit wahrnehmen möchten oder nicht. Offenbar sehen sie in den Videos aber einen guten Ersatz für die Vorlesungen mit den eingangs erwähnten Vorzügen. Beim Professor kommt das allerdings als Geringschätzung seiner Arbeit und vielleicht sogar seiner Person an. Indem er die Studierenden quasi drängt, seinen Vorträgen live zu lauschen, täuscht er sich zumindest selbst. „Das Haus ist voll, ich mache gute Arbeit.“

Wenn also jemand etwas wie eine deutsche Khan-Academy vorantreiben möchte, sollte er sich in meinen Augen nicht nur auf die Finanzierung und Erstellung einer Infrastruktur beschränken. Vielleicht ist es das viel größere Problem, die Menschen mitzunehmen, die bisher die Lehre leisten und denen ein Umdenken schwer fällt: „Bisher sind wir ja auch gut damit gefahren.“, „Denkt doch mal an die ganzen Risiken!“,  „Das ist ein Hype, der geht vorbei, man muss nicht alles mitmachen.“ Oder können wir das vernachlässigen und uns am viel beschworenen und oft gescholtenen System doch irgendwie vorbeimogeln?

Vorlesungen – überholt? (revisited)

Vor nun bald zwei Jahren habe ich mich schon einmal mit der Frage beschäftigt, ob Vorlesungen überholt sind. Inzwischen ist einiges Wasser die Oker vor meinem Büro entlanggeflossen, ich habe ein Hochschuldidaktik-Programm beinahe komplett absolviert und auch Praxiserfahrung gesammelt. Nun zaudere ich ein wenig, dieses große Fass anzustechen, denn es ist schon so viel dazu gesagt und geschrieben worden – und diskutieren kann man sicher endlos. Da aber gerade im Blog von Christian Spannagel das Thema erneut aufkam und ich außerdem über einen brandaktuellen Artikel von Louis Deslauriers, Ellen Schelew und Carl Wiemann gestolpert bin, schneide ich das Thema noch einmal an – wohl wissend, dass ich dabei einige Punkte offen lasse.

Begeben wir uns in die Mitte des 15. Jahrhunderts: Bücher kosten ein kleines Vermögen, weil sie entweder per Hand abgeschrieben werden oder über umständliche Verfahren in Druck gehen. Universitäten hüten die Schätze in ihren Bibliotheken, Professoren lesen in Vorlesungen aus diesen Büchern vor (daher der Name) und ergänzen die Texte durch eigene Kommentare. Die Studierenden schreiben stumm aber fleißig mit, und zur damaligen Zeit war das sicher eine effiziente Form, das geschriebene Wort zu Lernzwecken zu verbreiten.

Seit damals gab es allerdings ein paar Erfindungen, etwa den Buchdruck mit beweglichen Lettern, der Bücher für praktisch Jedermann erschwinglich machte, Kopierer oder das Internet. Allein um Inhalte zu verbreiten, bedarf es einer Vorlesung (hier im wahrsten Sinne des Wortes) also eigentlich nicht mehr. Den Stoff kann jeder selbst nachlesen oder mitunter auch in Hörbuch- oder Videoform genießen und dann sogar selbst festlegen, wo, wann und in welchen Häppchen er sie sich zu Gemüte führt. Zum Glück ist reines Vorlesen inzwischen wohl die Ausnahme, obwohl ich auch davon gehört, dass das noch mancherorts praktiziert wird. Heute dominiert an Universitäten mit Abstand der freie Vortrag der Dozenten (und in Seminaren setzt sich das oft bei den Studierenden fort). Inzwischen habe ich auch solche Frontalbeschallung in Grenzen schätzen gelernt, aber, großes Aber, nicht permanent und als einziges Mittel. Als Phase von etwa 20 Minuten mit klarem Lernziel, einverstanden. Bitte im Wechsel mit wirklichen Gesprächen, die zum Denken anregen, nicht nur Pseudozwischenfragen. Bitte im Wechsel mit Phasen, in denen man auch selbst etwas machen kann. Bitte…

Also, wenn Vorträge gut gemacht sind (sind sie leider selten, ich kann das auch nicht sonderlich gut), dann hält man sie auch mal 90 Minuten lang aus. Den Vortrag aber generell als DIE Methode zu benutzen, immer und überall, das stelle ich infrage. Bitte, liebe Dozenten, nutzt die knappe und wertvolle Präsenzzeit doch nicht nur für Monologe.

Wenn ihr meint, dann käme „hinten doch nichts mehr raus“, schaut euch vielleicht den Artikel von Deslauriers, Schelew und Wieman an (Improved Learning in a Large-Enrollment Physics Class). Das ist auch nur eine einzige Fallstudie, sicher nicht verallgemeinerbar, aber schaut sie euch doch bitte an. Was haben die drei gemacht?

Ein Kurs zur Quantenmechanik wurde in zwei fast gleich große Gruppen eingeteilt (jeweils etwa 270 Studierende) und beide zu je drei Stunden die Woche in einem Hörsaal mit fester Bestuhlung unterrichtet. Es gab in beiden Gruppen dieselben Hausaufgaben, Übungen usw. Beide Gruppen nahmen an denselben Prüfungen teil, zwei semesterbegleitend und eine abschließend. Beide Gruppen wurden elf Wochen lang von erfahrenen Dozenten mit guten Evaluationen im bekannten Vorlesungsmodus mit PowerPoint inklusive Beispielproblemen und Demonstrationen bearbeitet. Beide Gruppen unterschieden sich im Mittel bis zum Ende dieses Zeitraums kaum, was Leistung, Anwesenheit oder Engagement anging. Das überraschte die Autoren des Artikels, denn die Dozenten hatten recht unterschiedliche Persönlichkeiten gehabt.

Nun aber zum spannenden Teil: In Woche zwölf blieb in der Kontrollgruppe fast alles beim Alten. Der Dozent machte weiter wie gehabt, allerdings sollten nun die Unterrichtseinheiten durch Lesen relevanter Texte vorbereitet werden. In der Experimentalgruppe wechselte der Dozent. Der neue hatte weniger Lehrerfahrung vorzuweisen, gestaltete die Veranstaltungen aber abwechslungsreicher, beispielweise mit verschiedenen Aufgaben zur Vorbereitung auf die Sitzung, mit Kleingruppenarbeiten und Diskussionen. Es wurde zu Beginn auch kurz Zeit dafür verwendet zu erläutern, warum man die jeweils gewählte Methode nutzte.

In der Folgeveranstaltung wurde in beiden Gruppen derselbe Test geschrieben, der zuvor entworfen worden war und zwölf Fragen enthielt. Die Kontrollgruppe hatte in den drei Stunden den Stoff für alle zwölf Fragen behandelt, in der Experimentalgruppe konnten aus Zeitgründen nur die Inhalte für elf Fragen abgedeckt werden. Ergebnis: Die Kontrollgruppe erreichte im Mittel 41% der möglichen Punkte, die Experimentiergruppe 74% (durch bloßes Raten hätte man im Mittel 23% erhalten). Das Fragebogen-Feedback, das nach dem Kurs von den Studierenden eingeholt wurde, fiel ebenfalls sehr positiv aus.

Wie bereits angedeutet, diese einzelne Fallstudie beweist gar nichts. Ich hätte da auch verschiedene Ansatzpunkte für Kritik: War der Wechsel des Dozenten für den Unterschied verantwortlich (obwohl er eigentlich weniger praktische Lehrerfahrung besaß)? Hat allein die Beschäftigung mit den Studierenden dafür gesorgt, dass die Ergebnisse besser ausgefallen sind? Warum wurde die Experimentalgruppe nur eine einzige Woche lang anders unterrichtet? Wieso wurde das Experiment noch nicht wiederholt? Was sagen die verwendeten Multiple-Choice-Tests schon aus? Und so weiter, und so fort. Aber vielleicht ist doch wenigstens ein bisschen was dran…

Update: Wer die obigen Ausführungen gelesen hat, wird an dem zweifeln, was in DIE ZEIT dazu geschrieben wurde: Hier rein, da raus.

Update 2: Ein Kommentar von Philip Aschermann, Student an der TU Braunschweig: Universitäten sollten endlich die Vorlesung abschaffen – ein Kommentar.