Gestern erschien auf SPIEGEL online der Artikel „Ein Professor für 99 Studenten“ (Klovert, 3. Januar 2016). Darin wurde die Personallage an Hochschulen mit Blick auf die Lehre thematisiert. Ich empfand den Beitrag an mindestens drei Stellen störend. Vielleicht ist es mal wieder an der Zeit, an paar Einblicke in die Hochschulwelt zu geben. Wieder. Auch das gehört zu Open Science.
Kritikpunkt Nr. 1: Aufmerksamkeitsheischerei
Mein erster Kritikpunkt trifft die Wahl der Überschrift. Wer den Artikel liest, stellt nämlich fest, dass mit dem Verhältnis 1:99 der schlechteste Wert aller Bundesländer herausgepickt wurde. Am anderen Ende des Spektrums findet ihr 1:51,5. Fairer wäre es wohl gewesen, den Mittelwert (rund 1:65) oder den Median (rund 1:63) anzugeben statt den reißerischen Ausreißer. Zum einen klänge das aber weniger dramatisch und brächte vielleicht weniger Klicks. Zum anderen führt mich Statistik direkt zu meinen zweiten Kritikpunkt.
Kritikpunkt Nr. 2: Oberflächlichkeit
Die Kennzahl „ProfessorInnen pro Studierende“ lässt sich simpel berechnen: Zahl aller Profs, Gesamtzahl der Studis, teilen. Zack, feddich: Betreuungsschlüssel berechnet. Natürlich auf das Bundesland bezogen. Damit blendet man aber allerhand aus.
Es gibt an Hochschulen zahlreiche Veranstaltungsformate. Da wären etwa Einzelbetreuung bei Seminar- und Abschlussarbeiten oder Seminare mit vielleicht 15 TeilnehmerInnen. Dann gibt es noch kleinere Kurse mit möglicherweise 40 Personen bis hin zu Riesenveranstaltungen mit hunderten Anwesenden. Und das war noch nicht alles.
Darüber hinaus kann ein Studiengang kann darüber entscheiden, wie die Zusammensetzung der Formate für einen Studierenden aussieht. Manch eine/r kennt gar keine Massenveranstaltungen. Für manch eine/n sind sie quasi normal. Die Verteilung schwankt zudem über den Verlauf des Studiums. Gerade in frühen Semestern können Kurse „größer“ sein als in späteren, da verschiedene Studiengänge vertreten sind. In Linearer Algebra beispielsweise wird man sicher angehende MathematikerInnen treffen. Womöglich stößt man aber auch auf werdende IngenieurInnen, PhysikerInnen, InformatikerInnen und noch andere. Später sind Veranstaltungen spezieller und eher „klein“. Jenseits all dessen könnten die Betreuungsverhältnisse in Fächern oder Phasen sogar noch von Hochschule zu Hochschule eines Bundeslandes unterschiedlich sein. Ich schreibe „könnten“, weil ich dazu keine Erfahrungswerte habe.
Man merkt aber auch so, dass „ProfessorInnen pro Studierende“ ganz schön viel zusammendampft. Es lässt sich eigentlich nicht sagen, ob das für alle Studiengänge, für alle Studienphasen und für alle Hochschulen eines Bundeslandes gleichermaßen gilt. Oookay, das war methodenkritische Klugscheißerei. Mein größter und mich am meisten ärgernder Kritikpunkt kommt aber auch erst jetzt.
Kritikpunkt Nr. 3: Schlimmere Oberflächlichkeit
Warum wird so oft so getan, als hinge die Lehre an Hochschulen bloß von ProfessorInnen ab? Ich habe früher als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit meinen Kollegen regelmäßig so um die 600-700 Erstsemesterklausuren durchgesehen. Hinzu kamen die deutlich umfangreicheren und komplexeren Klausuren aus Vertiefungsveranstaltungen. Wir haben eigenständig die Übungen und Seminare durchgeführt und sind auch mal für Vorlesungen eingesprungen. Wir haben Studis bei Seminar- und Abschlussarbeiten begleitet und ihre Ergebnisse begutachtet und benotet (!), auch wenn wir natürlich formal keine Unterschrift leisten durften. Wir waren für Fragen von Studierenden da. Wir haben das Lernmanagementsystem betreut. Und da war sicher noch mehr dabei, was der Lehre zugerechnet wird. Sind trotzdem die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen für das berechnete Betreuungsverhältnis irrelevant? Oder gar für die ganze Lehre?
Gehen wir aber weg von meinem Einzelschicksal und werfen einen Blick auf eine Studie. Die betrachtet leider Universitäten differenzierter als Fachhochschulen, aber sei es drum. Im Schnitt werden an deutschen Hochschulen nur 39,4 % der Lehre von ProfessorInnen erbracht. Weitere 34,5 % entfallen auf wissenschaftliche MitarbeiterInnen. Die folglich verbleibenden 26,1 % übernehmen Lehrkräfte für besondere Aufgaben, Lehrbeauftragte und „Spezialfälle“ (vgl. Bloch, Lathan, Mitterle, Trümpler & Würmann, 2014, S. 43-63). Es sei angemerkt, dass sich auch hinter diesen simplen Zahlen beträchtliche Schwankungen über Fachbereiche hinweg verbergen. Schaut in die Quellen. Sie sind verlinkt. Ein Blick an die Fachhochschulen sind anders aus. ProfessorInnen und Lehrbeauftragte decken dort 75 % bis 100 % der Lehre ab. Letztere kompensieren allerdings fehlende Profs und erbringen mitunter die Hälfte der Lehre (vgl. Bloch et al., 2014, S. 101).
Fazit
Wir haben diverse Hinweise gefunden, dass die Kennzahl „Prof pro Studi“ je Bundesland quasi nichts über die Betreuung in der Lehre dort aussagt – schon gar nicht über die Qualität. Sie taugt bloß für Berichts-Bullshit in Ministerien oder unnötige Pressemeldungen. Wichtiger finde ich allerdings, dass endlich damit aufgehört wird, Hochschullehre mit ProfessorInnen gleichzusetzen. Kreckel hält dazu fest: „Das Gros der universitären Lehre wird in Deutschland heute von promovierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den sog. Postdocs, und zu einem nicht unerheblichen Teil sogar von Doktoranden getragen […]“ (Kreckel, 2016, S. 15). Ohne wissenschaftliche MitarbeiterInnen liefe an Unis gar nichts, und ohne Lehrbeauftragte könnten die Fachhochschulen dicht machen.
Quellen
- Bloch, R., Lathan, M., Mitterle, A., Trümpler, D., & Würmann, C. (2014). Wer lehrt warum? Strukturen und Akteure der akademischen Lehre an deutschen Hochschulen. Leipzig: AVA – Akademische Verlagsanstalt.
- Klovert, H. (3. Januar 2017). Ein Professor für 99 Studenten. Spiegel online. Abgerufen von http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/professoren-an-hochschulen-einer-auf-99-studenten-a-1128267.html
- Kreckel, R. (2016). Zur Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses an Universitäten: Deutschland im Vergleich mit Frankreich, England, den USA und Österreich. Beiträge zur Hochschulforschung, 38 (1-2), 12-40.