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Von der Uni in die Selbständigkeit

Was machen eigentlich Studierende, die ich in irgend einer Form begleitet habe, nach ihrem Studium? Das finde ich immer spannend, und von einigen bekomme ich das auch mit. Manche sind zum Promovieren an einer Uni geblieben, manche sind bei kleinen Firmen gelandet, andere bei Giganten wie Google – sogar in Irland! Von einem, den ich im Rahmen meines Unternehmensplanspiels kennengelernt habe, weiß ich, dass er sich selbständig gemacht hat.

Gestern bin ich zufällig über einen Zeitungsartikel gestolpert, der von der Verleihung des Braunschweiger Technologietransferpreises berichtet. Grund für die Auszeichnung war die erfolgreiche Entwicklung eines kapazitiven EKG-Geräts [1], bei dem keine Elektroden mehr geklebt werden müssen. Es wird einfach auf dem Oberkörper platziert – geht sogar ohne den frei zu machen – und funkt die Daten dann an einen Rechner. Entstanden sind das aus meiner Sicht interessante Gerät und die Firma drumherum aus der Uni heraus. So etwas sollte es viel häufiger geben, finde ich.

Quellen


[1] Tacke, Oliver (2010): EKG ohne Körperkontakt: „Ein bisschen wie Star Trek“, in: Rettungsdienst, 33. Jg., Nr. 11, S. 44-45.

Blogparade bei Herrn Larbig: Reflektierende Praktiker (Lehrende und Co)

Ich folge dem Ruf zur Blogparade von Torsten Larbig, der sich dem Thema widmet, mit welcher ROUTINE Lehrende über ihre Arbeitspraxis nachdenken.

Was fällt mir dazu überhaupt ein? Der Begriff des reflektierenden Praktikers wird oft mit Donald Schön in Verbindung gebracht. Von ihm stammt das Buch The Reflective Practitioner: How Professionals Think In Action, das eine Zeit lang auf meinem Schreibtisch lag, ich aber immer noch nicht gelesen habe. Da mir das mit einigen Büchern so geht, müsste ich wohl auch darüber einmal nachdenken…

Aber zurück zur Sache. Eine formalisierte Routine (im Sinne von streng methodisch) habe ich eigentlich nicht. Ich überlege zwar regelmäßig vor Lehrveranstaltungen, wie ich sie gestalten sollte, und lasse frühere Erfahrungen einfließen. Ich denke auch regelmäßig hinterher darüber nach, was gut gelaufen ist; frage mich, warum manche Dinge wohl nicht geklappt haben. Dafür habe ich bei den täglichen Zugfahrten genügend Zeit. Dafür ziehe ich ab und an als analytische Denkhilfe auch theoretische Modelle zu Rate, etwa die Themenzentrierte Interaktion oder das Kommunikationsquadrat, aber ist das schon Routine?

Darüber hinaus: Das Nachdenken allein genügt mir nicht immer, denn mitunter komme ich allein nicht weiter oder wünsche mir einfach einen anderen Blickwinkel. Gerne habe ich dann mit einem früheren Kollegen diskutiert. Das half mir ungemein. Nicht anders verhält es sich mit Gesprächen mit meiner Freundin, auch wenn ich ihr sicher ab und an auf den Wecker falle mit meiner Grübelei :-)

Bei Ereignissen, die mich besonders bewegen, twittere ich von Zeit zu Zeit auch einfach eine kurze Meldung, oder ich blogge etwas ausführlicher. Die Beiträge können sich dann um freudige Erfahrungen drehen, aber auch mal um weniger schöne. Ich habe festgestellt, dass bereits das Verschriftlichen meiner Gedanken eine andere Qualität des Reflektierens mit sich bringt und auch ohne Rückmeldung in Form von Kommentaren nützlich für mich ist. Über Feedback und anschließende Diskussionen freue ich mich natürlich dennoch. Dabei ist es mir gar nicht wichtig, ob mein Gesprächspartner ein Experte oder Laie ist. Es hilft mir schon, dass ich jemand anderem meine Überlegungen verständlich machen muss – unabhängig davon, ob ich nun DEN Tipp bekomme oder nicht.

Soviel als Einstieg, vielleicht geht die Blogparade hier noch weiter. Nun bin ich aber erst einmal gespannt auf Beiträge von anderen.

Wie praktisch, das ist ja gar nicht so theoretisch!

„[…] there is nothing so practical as a good theory.“
Kurt Lewin

Das Problem ist altbekannt: Oft werden Theorie und Praxis als Gegenpole dargestellt. Auf der einen Seite das Betrachten, Durchdenken und Entwickeln von Hypothesen und Modellen, auf der anderen Seite das Durchführen und Handeln in der Wirklichkeit. Diese Unterteilung birgt viel Zündstoff; „Praktiker“ werfen „Theoretikern“ Realitätsferne vor, deren Ideen in den seltensten Fällen auf den konkreten Anwendungsfall übertragen werden können. Andersherum wird unterstellt, man reflektiere viel zu wenig und könne nicht durch Herumtappen in Versuchen und Erfahrungen, ohne Prinzipien abzuleiten, weiter kommen als durch Theorie (vgl. Kant, Immanuel (1918): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Felix Meiner Verlag (Hrsg.): Taschenausgaben der „Philosophischen Bibliothek“, Bd. 8, S. 70).

In der Wissenschaft gibt es eine vergleichbare Diskussion – man unterscheidet dort die reine Wissenschaft von der angewandten Wissenschaft. Während erstere das Ziel verfolgt, lediglich neues Wissen zu sammeln („Wissenschaft als Selbstzweck“), steht bei letzterer die „bessere Lebensbewältigung“ im Mittelpunkt, die durch praktische Umsetzung der Erkenntnisse erreicht werden soll (vgl. Fülbier, Rolf Uwe (2004): Wissenschaftstheorie und Betriebswirtschaftslehre, in: WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 33. Jg., Nr. 5, S. 266-271, hier S. 267-268).

Welche Spezies eignet sich aber besser als Forscher? Der Theoretiker, der gründlich nachdenkt und so zu Ergebnissen gelangt? Oder der Praktiker, der im „richtigen Leben“ steht und dort seine Erkenntnisse gewinnt? Schauen wir uns beide einmal an – in sehr überspitzter Form.

Der Theoretiker hat einen Blick für das große Ganze und beherrscht das abstrakte Denken. Er bezieht sein Wissen allerdings mehrheitlich aus Büchern und Zeitschriften – aus den Schilderungen anderer. Er hat sich in seinem Leben zum größten Teil nur gedanklich mit einem Erkenntnisobjekt auseinandergesetzt. Ihm fehlt die Erfahrung, implizites Wissen, das in der Praxis erworben werden muss. Kant sagte: „[…] so kann es Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt: […]“ (Kant, Immanuel (1918): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Felix Meiner Verlag (Hrsg.): Taschenausgaben der „Philosophischen Bibliothek“, Bd. 8, S. 69) Können Theoretiker die Relevanz ihrer Theorie für die Praxis dann überhaupt einschätzen? Konkret für die Universität könnte man fragen, ob jemand Konzepte für den Einsatz durch Lehramtsstudenten entwickeln und unterrichten sollte, der nie selbst an der Schule gelehrt hat, ob jemand der Wirtschaft Empfehlungen aussprechen sollte, der nie selbst in einem Unternehmen gearbeitet hat, … Wäre das nicht so, als brächte man jemandem das Autofahren bei, nachdem man lediglich Bücher darüber gelesen hat?

Der Praktiker hingegen ist hervorragend darin, Informationen exakt zu Verarbeiten und die Realität einzuschätzen. Er geht eher intuitiv vor, lernt durch Handeln in konkreten Situationen und hat viel Erfahrung gesammelt. Theorie ist für ihn nur unnützer Ballast, den sich „die da oben“ ausgedacht haben, mit dem man aber im wirklichen Leben nichts anfangen kann. Sie sammeln Wissen vor Ort und dokumentieren es dann. Möglicherweise unterliegen sie aber auch dem Irrtum, theoretische Modelle seien allgemeingültige Richtlinien, die jeden beliebigen Einzelfall vorhersagen können – sie sehen nicht, dass Modelle bewusst abstrahieren, um zu veranschaulichen und zu vereinfachen – sonst wären sie wertlos. Welchen Nutzen hätte beispielsweise die Karte eines Landstrichs im Maßsstab 1:1? Sie wäre zwar sehr genau, aber man könnte sie nicht mehr gebrauchen (vgl. Pidd, Mike (2009): Tools for Thinking: Modelling in Management Science, 3. Aufl., Chichester, S. 12) Hier könnte man nun fragen, ob Erkenntnisse eines Praktikers überhaupt einen Wert haben, wenn man sie nicht auf andere Situationen übertragen kann. Wäre das nicht so, als meine man alles über Autos zu wissen, nur weil man mal eines oder auch zwei gefahren hat?

Wie so oft kommt es wahrscheinlich auch hier auf eine gesunde Mischung an, oder doch nicht? Könnte sich nicht die eine Hälfte der Forscher auf die Theorie stürzen, die andere Hälfte auf die Praxis, und am Ende tragen beide ihre Ergebnisse zusammen? Oder gar: Könnte nicht die theoretische Grundlagenforschung nur an Universitäten stattfinden, die angewandte Forschung anderswo, zum Beispiel an den Fachhochschulen? Oder man tauscht sich einfach mit der Wirtschaft aus? Moment, die Idee hatte ja offenbar schon einmal jemand. Dummerweise klappt das mit dem Austausch überhaupt nicht, zumindest sehe ich das selten. Jeder wurschtelt lieber für sich allein, verschenkt Potenzial und gibt sich lieber den eingangs geschilderten Vorwürfen hin.

Unabhängig davon wäre es mir persönlich zu wenig, stets nur an Einzelproblemen zu forschen, ohne sie in einen größeren Kontext zu betten. Gleichsam fände ich es überaus unbefriedigend, stets nur neue Theorien aus der Literatur abzuleiten, ohne jemals zu versuchen, sie in der Praxis durch Falsifikation zu überprüfen (sondern wieder nur anhand von Literatur). Dann würde etwas fehlen. Man benötigt daher als Forscher stets beides, Theorie und Praxis im ständigen Wechselspiel, die sich gegenseitig immer wieder befruchten. Oder wie Jean-Pol Martin es formulierte: „Konzepte schützen mich gegen Misserfolge in der Praxis. Die Praxis sichert ab, dass ich keinen Schrott produziere.“ (Abschlussvortrag am LdL-Tag an der PH Ludwigsburg, 9. Mai 2009) Eine Sonderstellung nimmt allenfalls die Mathematik ein, denn sie ist gar nicht auf die Realität angewiesen. Sie ist ein reines Gedankengebäude, dass man zwar modellhaft (und oft sehr Gewinn bringend) auf unsere Welt anwenden kann, notwendig ist dies aber zum Beweisen von Vermutungen nicht. Dennoch kann man vielleicht auch in diesem Bereich durch praktische Anwendung auf neue Ideen kommen.

Für den Einstieg in die Forschung sehe ich zwei ebenbürtige Möglichkeiten:

  1. Es herrscht „Leidensdruck“ in der Praxis, ein bestimmtes Problem lösen zu müssen. Auf diese Weise wurde zum Beispiel aus dem Klassenzimmer heraus die Lehrmethode LdL entwickelt, die sich zahlreicher Theorien bedient (vgl. Martin, Jean-Pol (2009): Leidensdruck als Erkenntnismotor, zuletzt abgerufen am 21.02.2010). Dieser Ausgangspunkt ließe sich eher der angewandten Wissenschaft zuordnen.
  2. Es wird theoretische Grundlagenforschung betrieben um der Erkenntnis willen. Diese wird in der Praxis überprüft und führt dort zu Innovationen, die wiederum Ideen für weitere Forschung bieten. So ermöglichte die Entdeckung des Riesenmagnetowiderstands beispielsweise erst die Entwicklung von Festplatten – die so nicht geplant war. Dieser Ausgangspunkt wäre der reinen Wissenschaft zuzuordnen.

Wichtig ist in jedem Fall (zumindest mir), dass möglichst zügig eine Verschränkung zwischen Theorie und Praxis stattfindet. Man darf zwar einfach mal etwas Ausprobieren, ohne sich zu viele Gedanken zu machen, sollte dann aber alsbald konzeptualisieren; sonst läuft man womöglich von Sackgasse zu Sackgasse, weil man das große Ganze nicht überblickt. Ebenso darf man auch einfach mal theoretische Ideen entwickeln, sollte sie aber nicht zu lange ohne Überprüfung stehen lassen. Andernfalls sehe ich die Gefahr, wackelige Modelle zu entwickeln, die man später umständlich stützen muss – oder sonst wie ein Kartenhaus einstürzen können.