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Brauchen wir eine „Manuel-Andrack-Didaktik“?

Am vergangenen Montag habe ich eine These getwittert: „Die Welt braucht mehr Manuel Andracks in der Vorlesung…“ Wie kam es dazu und was meine ich damit?

Ausgangspunkt war meine Skype-Session mit Jean-Pol Martin, bei der wir die Idee hatten, diese auch gleich ins Netz zu streamen und mittels Twitterwall auch Fragen aus dem Plenum und dem Web hereinzuholen. Die hätte man berücksichtigen müssen, idealerweise hätte man auch  selbst noch nach außen gezwitschert, vielleicht noch das Mikro zu einem Studenten gebracht, damit man ihn besser verstehen kann, usw. Irgendwann gelangt man einen Punkt, an dem man das als Dozent nicht mehr allein bewältigen kann, so meine These. Man bräuchte so etwas wie einen Unterstützer, der die Tweets beobachtet, bei Bedarf das passende Stichwort gibt, Dinge nebenbei organisiert oder für kurze thematische Zwischendiskussionen einen Gesprächspartner abgibt – eben einen Manuel Andrack wie einst in der Harald Schmidt Show.

Diese These wurde heute bestätigt. Susanne Robra-Bissantz hatte sich nach einem Vortrag in der vergangenen Woche spontan dazu entschlossen, heute in einer ihrer Vorlesungen an der TU Braunschweig eine Twitterwall auszuprobieren. Wozu soll man das brauchen können? Zum Beispiel, um…

  • …einen zusätzlichen Rückkanal zur Verfügung zu stellen: nicht alle wollen sich mündlich beteiligen, einige Beiträge müsste man sonst vielleicht aus Zeitgründen zurückstellen, …
  • …Dinge zu erfahren, die man sonst nicht erfährt: jemand kennt einen passenden Link zu einem Thema und verteilt den an alle; man bekommt als Dozent vielleicht eher mit, wenn eine Störung den Informationsaustausch hemmt und Vorrang hat (themenzentrierte Interaktion), …
  • …schlicht die Veranstaltung zu dokumentieren.
  • …Außenstehende in die Lehre einzubinden – in der großen weiten Welt gibt es möglicherweise interessierte „Zuhörer“ oder jemanden, der die Lösung für ein Problem in der Veranstaltung kennt.

Ich sammle mal stichpunktartig, was ich beobachtet habe – sonst wird der Artikel hier noch länger, als er ohnehin schon ist…

  • Die  Beteiligung per Tweets überstieg die normale mündliche Beteiligung.
  • Die Twitterwall zieht Aufmerksamkeit ab – auf Studenten- und Dozentenseite. Am besten sollte man die nicht direkt neben die Vorlesungspräsentation an die Wand werfen, sondern ein wenig abseits. Wer nicht draufschauen will, wird so nicht abgelenkt.
  • Es gibt mehr Informationen zum Verarbeiten, es kam aber die Frage nach dem „Information Overflow“. Antwort kam per Twitter, finde ich gerade nicht mehr: Es gibt nicht zu viel Information, aber vielleicht zu schlechte Filter.
  • Die Linearität der klassischen Frontalvorlesung wird durch Perturbationen durch Twitter unterbrochen. Es emergieren neue Dinge, auf die man eingehen kann/muss. Am Ende sollte aber sichergestellt sein, dass Linearität a posteriori hergestellt wird (vgl. Linearität in der Wissensvermittlung).
  • Es wurde viel Unsinn geposted, der zwischenzeitlich für das Abschalten der Twitterwall sorgte. Wie geht man mit solchen Störtwitterern um?
    Die Twitterwall zensieren/moderieren? Widerspräche dem „Web 2.0“-Gedanken der Offenheit und Transparenz. Auch Offtopic-Posts sollten nicht generell verboten werden, sie können auch wertvolle Hinweise oder Impulse liefern.
    Alles kommentieren? Schenkte den Störern nur noch mehr Aufmerksamkeit.
    Ignorieren? Vielleicht nicht komplett, aber tendenziell schon eher, solange es nicht überhand nimmt und es niemanden stört.
    Möglicherweise genügt aber auch bereits das gemeinsame Aufstellen von Spielregeln für eine Twitterwall im Vorfeld, quasi eine Twittiquette?
  • Es schien den Eindruck zu geben, Twitter solle ein Ersatzkanal für mündliche Beteiligung sein – er war aber als Zusatz gedacht.
  • Es wurden tatsächlich unterstützende Links zu Vorlesungsthemen gepostet, zum Beispiel zu Neuronalen Netzen oder zu CSCW.
  • Es gab tatsächlich schon Reaktionen von außen, zum Beispiel von @mons7.
  • Der Hashtag #ewi war um 11:00 auf Platz 1 bei Twicker.net.
  • Sogar Störer melden nachträglich über Twitter, sie fänden das Konzept gar nicht schlecht.
  • Einige Leute haben sich erst aufgrund der Veranstaltungen ein Twitter-Konto zugelegt. Willkommen!
  • Auch nach der Vorlesung wurde noch weiter diskutiert – über die Twitterwall in der Vorlesung, aber vielleicht geht es auch mal fachlich weiter?

Das nicht alles rund läuft, war zu erwarten – natürlich zog die Twitterwall viel Aufmerksamkeit auf sich, war ja etwas ganz Neues! Es bleibt zu beobachten, ob sie sich über einen längeren Zeitraum bewährt und die Probleme sich möglicherweise von allein lösen. Das Konzept muss man auf jeden Fall noch viel weiter ausbauen, vor allem stärker didaktisieren und endlich mal wegkommen vom reinen Frontalunterricht. Den Potenzialtest würde ich auf jeden Fall für bestanden erklären. Danke, Susanne, für den Mut!

Ein „Manuel Andrack“ könnte möglicherweise helfen, um die sinnvolle Nutzung einer Twitterwall (und weitere zu erwartende Neuerungen!) zu gewährleisten.  Er wäre verantwortlich für das „Drumherum“ und steuert, der Dozent wäre verantwortlich für das Inhaltliche und betreut – Abwechseln wäre natürlich auch erlaubt. Das Zusammenspiel müsste man natürlich erproben, das ginge auch nicht von Jetzt auf Gleich. Aber warum keine Lehrteams, die sich später gegenseitig auch noch Feedback und Verbesserungsvorschläge geben könnten? Viel Forschungsarbeit wartet also für die „Manuel Andrack-Didaktik“ :-) Vor allem muss auch noch folgende Frage geklärt werden: Brauchen wir auch eine Natalie und eine Band?

Was ist ein Aktives Plenum?

Gestern habe ich wieder gelernt, wie schön und wertvoll Vernetzung sein kann: Vor einigen Monaten habe ich über Twitter Christian Spannagel kennengelernt, der an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg Mathematik, Informatik und deren Didaktik lehrt. Ich habe ihn besucht und mir sein „Aktives Plenum“ in drei verschiedenen Vorlesungen angesehen. Wie muss man sich das vorstellen?

Die Veranstaltungen sind in drei Teile gegliedert: Zu Beginn führt Christian in dozentenzentrierten aber nicht notwendigerweise frontalen Phasen in das Thema ein. Er beantwortet Verständnisfragen zu Texten, die als Vorbereitung gelesen werden mussten – oder er spiegelt diese zurück ins Plenum, so dass die Teilnehmer die Antwort geben.
Die nächste Phase ist dann das Besondere, das „Aktive Plenum“, deren Ausgangspunkt unterschiedlich gestaltet sein kann:

  1. Die Studierenden hatten zusätzlich zum zu lesenden Text eine Aufgabe erhalten, die sie zur Vorbereitung bearbeiten sollten.
  2. Die Studierenden erhalten Aufgaben, die sie zunächst innerhalb der Veranstaltung allein oder in Zweiergruppen bearbeiten.
  3. Die Studierenden erhalten Aufgaben, die sie ad hoc beantworten sollen.

Je nach Zahl der Teilnehmer begeben sich dann ein oder zwei (möglichst) Freiwillige nach vorne. Sie beantworten nicht selbst die Fragen, sondern moderieren bloß und dokumentieren an der Tafel, was Ihnen durch das Plenum mitgeteilt wird. Christian hält sich dabei bewusst im Hintergrund und greift nur ein, wenn es nötig ist. Er lässt bewusst auch Freiraum für Irrwege oder kurzes Stocken des Flusses an Beiträgen – dabei den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, ist schwierig und erfordert Erfahrung. Ich beobachtete, wie sich fast durchgängig rege Beteiligung unter den Studierenden entwickelte: Es wurden eigene Ideen eingebracht, andere hinterfragt oder Fragen von anderen direkt von den Studierenden Schritt für Schritt gemeinsam beantwortet. Christian streut nur dann zusätzlichen Input sparsam ein, wenn er notwendig ist, um den Prozess in Gang zu halten. Nachdem die Fragestellungen für ihn UND das Plenum ausreichend beantwortet sind, schließt sich eine weitere solche Runde an, und andere Studierende übernehmen das Ruder.
Als Abschluss fasst Christian die wichtigsten Punkte zusammen und erläutert, wie es in der nächsten Veranstaltung weitergeht.

Wie war mein Eindruck?
Es wird gefühlt deutlich weniger Inhalt „durchgenommen“ als in einer „normalen“ Vorlesung, das bereitete mir zunächst Bauchschmerzen. Der Unterschied liegt darin begründet, dass im aktiven Plenum klar Anwendung, Transfer und problemlösendes Denken im Vordergrund stehen. Es hat also eher Übungscharakter: Studenten lernen, mit dem Wissen umzugehen, statt es bloß anzuhäufen. Der Stoff wird allerdings nicht vernachlässigt, sondern bereits zu Hause vorbereitet, indem ausgewählte Texte gelesen und bearbeitet werden. Wer dies nicht erledigt, kann schlechter mitarbeiten, ist allerdings auch selbst dafür verantwortlich.
Im Vergleich zu den „normalen“ Vorlesungen, die ich kenne, gibt es eine viel ausgeprägtere Beteiligung der Studierenden, also offenbar eine stärkere Aktivierung. Außerdem treten Probleme ans Licht, die man sonst nicht hätte beobachten und angehen können. An einer Stelle änderte Christian zum Beispiel spontan den geplanten Lauf der Veranstaltung, um zu einem bestimmten Thema eine zusätzliche Übung durchzuführen – damit wichtige Begriffe verstanden werden und „sitzen“. Im Vordergrund steht demnach nicht, einen zuvor festgelegten Inhalt unbedingt durchzupeitschen, sondern bei Bedarf kann auch auf etwas verzichtet werden. Qualität geht vor Quantität.

Das Konzept gefällt mir gut, ich werde es auf jeden Fall ausprobieren. Ich frage mich aber noch, ob es sich 1:1 auf betriebswirtschaftliche Fächer wie Marketing oder Unternehmensführung übertragen lässt. Dort geht es manchmal bis öfter einfach schlicht um das Auswendiglernen, und es gibt in den seltensten Fällen ein klares „richtig“ oder „falsch“. Ohne stärkeres Eingreifen durch den Lehrenden oder sehr eng gesteckte Aufgaben wird es möglicherweise schwierig, zum Kern einer Sache vorzudringen. Es besteht die Gefahr einer fachlich netten, aber wenig zielführenden Diskussion – kann zum Beispiel auch bei Fallstudien passieren. Muss man ausprobieren. In jedem Fall dürfte aber die Schlussphase, die Zusammenfassung der wichtigsten Punkte (beziehungsweise die Linearisierung a posteriori), besonders wichtig sein und mehr Raum erfordern.

Meine ersten Gehversuche mit Lernen durch Lehren – Teil 2

Gestern habe ich in meiner Vorlesung angekündigt, in vier Wochen eine komplette Sitzung per Lernen durch Lehren (LdL) abhalten zu wollen:  In Dreiergruppen sollen 25-minütige Phasen absolviert werden zu rechtlichen Aspekten im Online-Marketing. Die einzelnen Themen liegen zwar in unbekanten Gewässern (Online-Marketing), aber die Navigationskenntnisse sind bereits bei den angehenden Wirtschaftsjuristen vorhanden (Jura). Was es mit der Methode LdL überhaupt auf sich hat, habe ich kurz per Video von deren Entwickler Jean-Pol Martin angerissen, danach ergänzt und zusätzlich eine kurze schriftliche Ausarbeitung verteilt.

Wie erwartet habe ich damit Unsicherheit und Widerstand erzeugt – nicht unbedingt wegen der Methode, sondern weil sich langsam die Klausurenzeit im Januar nähert und ein zu hoher Zeitaufwand befürchtet wird. Er wird natürlich höher ausfallen als bei einer klassischen „Zuhörvorlesung“, aber nicht unverhältnismäßig – dafür wird jedoch bedeutend intensiver gelernt.

Es werden sicherlich noch Fragen aufkommen, die sich erst nach der Vorlesung ergeben haben. Jean-Pol Martin hat sich daher angeboten, diese kommende Woche per Skype-Zuschaltung zu beantworten. Vernetzung ist etwas Großartiges!