Am Pfingswochenende habe ich das Buch Reinventing Discovery gelesen, in dem sich Michael Nielsen mit dem Einfluss des Internets auf die Wissenschaft beschäftigt. Ein tolles Buch, das mir viele Anregungen zum Denken gegeben hat. In Kapitel 7 beschäftigt sich Nielsen beispielsweise damit, wie Jedermann etwas zum Erkenntnisgewinn beitragen könnte, nicht bloß ausgebildete Forscher. Ein interessantes Beispiel ist die Website Galaxy Zoo.
Offenbar gibt es noch keine wirklich guten Algorithmen, mit denen Computer Weltallfotos analysieren und feststellen können, ob eine Galaxie spiralförmig oder elliptisch geformt ist. Für Menschen ist das ein Klacks. Käme nun allerdings jemand auf die Idee, das allein bewältigen zu wollen, hätte er bei etwa 170 Milliarden Galaxien im beobachtbaren Universum eine Ewigkeit zu tun. Selbst wenn er bloß eine Sekunde pro Klassifikation benötigte, säße er über 5000 Jahre daran – zwischendurch mal Pi-Pi-Pause noch nicht eingerechnet. Genau hier kommt Galaxy Zoo ins Spiel. Die Website bietet Zugriff auf Fotos von Galaxien und erlaubt es jedem, deren Form per Klick zu bestimmen. Eine unschätzbare Hilfe für die Wissenschaft, die ohne das Internet nicht möglich wäre.
Ein anderes Beispiel für das, was Nielsen Citizen Science nennt, stammt aus der Biologie: das Computerspiel Foldit. Ziel dabei ist es, nach bestimmten Regeln verschiedene Aminosäuren so anzuordnen, dass ein möglichst stabiles Protein entsteht. Je stabiler das Gebilde, desto mehr Punkte bekommt man und kann sich mit anderen Spielern weltweit messen – eine Prise Gamification also. Ach so, und Biologen haben natürlich auch etwas davon. Sie können über die Ergebnisse Rückschlüsse darauf ziehen, wie sich anhand der Erbinformationen die Gestalt von Organismen bestimmen lässt.
Vielleicht noch ein Beispiel gefällig, das nicht aus den Naturwissenschaften stammt? Christian Spannagel und ich schreiben schon eine ganze Weile Artikel in einem öffentlichen Wiki und laden dazu ein, uns mit Ideen zu unterstützen. Das war bisher recht unsystematisch und aktuell auch etwas unübersichtlich, aber dennoch haben wir schon wertvollen Input bekommen, von Korrekturlesen über Literaturtipps bis hin zu ergänzenden Ideen.
Es gibt also offensichtlich in der Wissenschaft durchaus Aufgaben, die schnell von „Ungelernten“ übernommen werden können und ihnen so eine Teilhabe an den Prozessen ermöglichen (auch wenn es Wissenschaft nicht als Tütensuppe gibt). Das hat mich an die Ideen von Frederick Taylor erinnert, die in Summe lustigerweise als wissenschaftliche Betriebsführung bezeichnet werden. Er hatte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Manufakturwesen eingebracht, um die Produktivität zu erhöhen, ohne dass das Personal dafür länger arbeiten musste. Ein Bestandteil seines Ansatzes war die strikte Trennung von Kopf- und Handarbeit, von Planung und Ausführung. Was an operativer Arbeit übrig blieb, wurde dann nochmals standardisiert und auf Effizienz getrimmt – eine Form sehr starker Spezialisierung. Und hier sehe ich einen möglichen unschönen Nebeneffekt auch für die öffentliche Wissenschaft.
Natürlich wird es beispielsweise durch die Kategorisierung bei Galaxy Zoo möglich, dass auch Nichtwissenschaftler in Prozesse der Wissenschaft eingebunden werden – aber eher als Arbeiter, die einfache, stumpfsinnige oder unliebsame Handgriffe verrichten. Ob sie allein dadurch wirklich Einblicke in die Astronomie erhalten, sei vorsichtig angezweifelt. Langweilig wird es obendrein. Wer nur eintönige Aufgaben vergeben will, braucht sich nicht zu wundern, wenn die niemand übernehmen möchte und niemand seine Unterstützung für Forschungsprojekte anbietet.
Warum beteiligen sich nun aber so viele Leute bei Galaxy Zoo? Es zwingt sie ja niemand zum Klick, Klick, Klick. Zum einen kann schon der Sinn hinter der Aufgabe motivieren, einen kleinen Beitrag für die Gesellschaft leisten (jedenfalls deutlich mehr als an einem Fließband irgend etwas zusammenzubauen). Zum anderen bietet Galaxy Zoo Zugang zu weiterem Material und bringt Menschen mit offenbar ähnlichen Interessen in einem Online-Forum zusammen. Und diese Amateure haben tatsächlich auch eine wertvolle Entdeckung gemacht!
Einer der Hobby-Astronomen stieß auf einem der Fotos auf eine grüne Galaxie, und die sind wohl eher unüblich. Eine weitere wurde gesichtet. Keiner wusste, was das sein könnte. Es bildete sich eine Gruppe, die nach diesen „Erbsen“ suchte, Theorien über mögliche Erklärungen aufstellte, sich selbständig die Technik der Spektralanalyse aneignete und Bild für Bild untersuchte. Sie kamen zu der Erkenntnis, dass die grüne Farbe durch heißen, ionisierten Sauerstoff hervorgerufen wird, der die Galaxien umgibt – eine bis dahin unbekannte Art von Galaxien, die Erbsen-Galaxien!
Mein Fazit: Mit ein bisschen Phantasie und Mühe ergeben sich in der Wissenschaft Wege, einerseits viele Nicht-Spezialisten über das Internet an den Prozessen teilhaben zu lassen und andererseits sogar durch deren Arbeit zu profitieren. Dafür darf man Amateuren aber nicht bloß stumpfsinnige Aufgaben zuteilen, man muss ihnen auch mehr zutrauen und ihnen entsprechend Ressourcen und Austauschmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Es gibt keine Garantie, dass das funktioniert, aber einen Versuch ist es wert. Welche Ideen kennt ihr noch dazu, vielleicht in anderen Disziplinen?
Die Abbildung der Andromeda-Galaxie stammt von thebadastronomer und steht unter der Creative-Commons-Namensnennung-Weitergabe-unter-gleichen-Bedingungen-2.0-US-amerikanisch-Lizenz (CC BY-SA 2.0).