Von Zeit zu Zeit stelle ich mein Blog für Gastbeiträge zu Verfügung — es ist wieder soweit! Ich freue mich über einen kurzen Artikel von Thomas Czerwionka und eure hoffentlich zahlreichen Kommentare!
An unzähligen Hochschulen gibt es bereits seit vielen Jahren sogenannte „E-Learning“-Zentren, -Büros, -Beauftragte, -Schulungen und/oder dergleichen. Vereinzelt werden auch heute noch derartige Strukturen und Angebote ins Leben gerufen. Das kann man längst überfällig und daher gut finden, man kann jedoch aus verschiedenen Gründen auch anderer Meinung sein. Meine eigene werde ich hier im Folgenden mal kundtun, und ich bin gespannt auf eure.
Noch etwas vorweg: Ich bin sicher nicht der Erste mit diesen oder ähnlichen Gedanken, und deshalb gibt es vermutlich auch schon Veröffentlichungen entsprechenden Inhalts. Da ich in dieser Richtung kaum recherchiert habe, bin ich euch für Hinweise darauf dankbar.
Ach ja, und apropos dankbar: Vielen Dank dir, Olli, dass du mir als Noch-immer-nicht-Bloggendem den Platz hier gewährst! :-)
Alles ist „E-Learning“ ist nichts
Der Begriff „E-Learning“ stammt aus einer Zeit, in der digitale, also auf Digitaltechnologie basierende Medien etwas Neues waren und sie dementsprechend als „neue Medien“ bezeichnet wurden. Wurden diese sogenannten „neuen Medien“ damals rund um formelles Lehren und Lernen eingesetzt, sprach man von „E-Learning“. Abgesehen von der natürlich fragwürdigen Bezeichnung kognitiver Prozesse als „elektronisch“ war das zu jener Zeit nicht mehr als ein spezieller Begriff für spezielle Formen der Lehr- und Lernunterstützung.Das war einmal. Heute ist es für Lehrende wie für Studierende vollkommen selbstverständlich, digitale Medien zu nutzen; sie sind aus dem Alltag wie auch aus dem Lehren und Lernen nicht mehr wegzudenken. Wohl kaum ein/e Lehrende/r stellt nicht zumindest hin und wieder Informationen und/oder Materialien zu Lehrveranstaltungen online oder schreibt den Studierenden eine E-Mail. War man früher ein Exot, wenn man digitale Medien in der bzw. für die Lehre genutzt hat, so ist man heute einer, wenn man dies nicht tut. Braucht man aber für etwas Selbstverständliches eine besondere Bezeichnung?
Zahlreiche Definitionen des Begriffs „E-Learning“ sind gut und gern 10 Jahre alt.* Das ist für bildungswissenschaftliche Entwicklungen bzw. Strömungen zwar kein allzu langer Zeitraum, bezogen auf die Verbreitung und Nutzung digitaler Medien jedoch eine halbe Ewigkeit.** Allein deshalb gehört der Begriff auf den Prüfstand. Doch dass er überholt ist, ist nicht das einzige Übel.
Was alle Definitionen naturgemäß eint, ist die Absicht, „E-Learning“ vom normalen/herkömmlichen/traditionellen Lehren und Lernen abzugrenzen (schon die Suche nach einem passenden Adjektiv verdeutlicht, wie absurd eine solche Unterscheidung ist). Der Begriff „E-Learning“ suggeriert, dass sich Hochschullehre trennscharf unterteilen lässt in solche mit digitalen Medien und solche, die ohne diese auskommt. Wo aber hört „normales“ Lehren und Lernen auf und wo fängt „E-Learning“ an? Hier wird etwas unterschieden, das nicht (oder nicht mehr) unterscheidbar ist. Der Begriff zieht eine imaginäre Grenze zwischen zwei Lagern, wo es nur noch eines gibt, und ist damit leider mehr als einfach nur ein sprachliches Ärgernis.
Das Unwort „E-Learning“
Der „E-Learning“-Begriff ist heute zum einen ein Symptom für ein unzeitgemäßes und/oder unreflektiertes Verständnis von digitalen Medien im Lehren und Lernen. Zum anderen ist er auch dessen Ursache. Er hält es am Leben, weil er etabliert ist, weil wir uns an ihn gewöhnt haben und wir ihn auch im Jahr 2015 noch als berechtigtes Element in einer großen Didaktik-Tagcloud akzeptieren. Das funktioniert, weil jede/r Einzelne ein ganz eigenes, diffuses „E-Learning“-Begriffsverständnis hat, das sich (je nebulöser, desto einfacher) mit der persönlichen Sicht auf Lehren und Lernen irgendwie in Einklang bringen lässt. Wohlgemerkt: „In Einklang bringen“ heißt dabei immer noch, die Nutzung digitaler Medien als Sonderform von Lehren und Lernen zu verstehen — möglicherweise als sinnvolle und vertraute, im schlechteren Fall jedoch als störende, fremdartige, mit der man nichts zu tun hat oder haben will. Die Verwendung des Begriffs beeinflusst somit die Wahrnehmung digitaler Medien im Lehren und Lernen. Und damit auch die Haltung ihnen gegenüber.
„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Kurzum: Für mein Empfinden hat der Begriff „E-Learning“ aus didaktischer Perspektive seine Daseinsberechtigung verloren. Zum einen ist er nicht mehr zeitgemäß, zum anderen steht er einer sachlich-konstruktiven Auseinandersetzung mit den Potenzialen digitaler Medien im Lehren und Lernen eher im Wege als dass er sie fördert.
Natürlich kann man auch heute noch der Meinung sein, digitale Medien seien neu und ihre Nutzung in der Hochschullehre sei etwas Besonderes, das einen speziellen Begriff und eine besondere Behandlung verdiene. Dennoch sollte man sich die Signale, die vom Begriff „E-Learning“ ausgehen, und die Wirkungen, die er hervorrufen kann, bewusst machen. Und man sollte sich im Klaren darüber sein, dass man den Begriff künftig enger und enger wird fassen müssen, um ihn überhaupt noch irgendwie mit Sinn zu füllen.
Wäre dann nicht jetzt ein guter Zeitpunkt, sich von ihm zu verabschieden?
* Vgl. Beats Biblionetz, Begriff „E-Learning“, Abschnitt „Definitionen“ (02.03.2015)
** Lag beispielsweise der Anteil der InternetnutzerInnen in Deutschland im Jahr 2003/2004 noch bei gut 50 % der Gesamtbevölkerung, nähert er sich aktuell der 80-%-Marke (vgl. ARD/ZDF-Onlinestudie, 02.03.2015, und (N)ONLINER Atlas 2014, S. 56 f., 02.03.2015).