Niemand sagt etwas (in großen Gruppen)… Teil 3

Solltet ihr direkt hier gelandet sein und den Kontext brauchen: Dies ist Teil 3 zum Thema „Niemand sagt etwas (in großen Gruppen)…“. Startet doch im Zweifel mit Teil 1 oder Teil 2.

Individuum (ICH)

Dem Individuum rechne ich alles zu, was die einzelnen Personen betrifft: Erwartungen, Eigenheiten, Laune, …

Die Lehrenden fragen nur Proforma, weil kein echtes Interesse besteht

Du bist Lehrender und hast kein echtes Interesse an den Antworten der Studierenden? Such dir einen neuen Job! Du bist aber Professor und willst eigentlich nur Forschen? Such dir einen neuen Job! Du bist aber Doktorand und musst lehren, obwohl du eigentlich nur die Promotion für bessere Chancen im Beruf haben willst? Such dir einen neuen Job!

Die Lehrenden wollen „alle“ mitnehmen

Dieser Idee begegne ich tatsächlich häufig. Lehrende wollen „alle“ mitnehmen. Jeder soll sich beteiligen, drankommen, mitmachen. Diese Vorstellung ehrt die Lehrenden in gewisser Weise, aber wird mit zunehmender Größe der Gruppe von Lernenden immer unrealistischer. Zu vielfältig werden die Individuuen mit ihren Voraussetzungen, ihrer Tagesform, usw. Wer bei einer einzigen Methode wie der Diskussion bleiben will, sollte hier wieder die Stellschraube bei seiner eigenen Erwartungshaltung suchen. Allen anderen sei ein Methodenmix angeraten, bei dem beispielsweise Kristina Lucius schon so manch „Stillen“ plötzlich „am Ruder“ gesehen hat.

Die Lehrenden sind zu ungeduldig

Im ersten Teil des Beitrags habe ich bereits angesprochen, was nach dem Stellen einer Frage überhaupt abläuft. Wer mag, kann dort nachschlagen.

Die Lehrenden sind unsicher

Ja. Das gibt es. Gerade wissenschaftliche MitarbeiterInnen an Hochschulen werden oft ins kalte Wasser geworfen. Nicht nur, dass sie nach dem Studium plötzlich auf der anderen Seite des Hörsaals stehen müssen und eine andere Rolle haben, in die sie sich hineinfinden müssen — nein — auch inhaltlich sind sie womöglich nicht so firm, wie sie dachten. Sie müssen sich womöglich selbst erst in ein neues Teilgebiet einarbeiten und sind gedanklich eher mit dem Inhalt denn mit seiner Vermittlung beschäftigt. Bei Andreas Böss-Ostendorf und Holger Senft heißt diese erste Phase in der Lehre „Hauptsache überleben!“

Obendrein besteht oft der Gedanke, auf alle Fragen der Studierenden eine Antwort wissen zu müssen. Nicht jeder ist so souverän wie einer meiner früheren Lehrer, der eigentlich Mathematik und Physik unterrichtete, dann aber auch Informatik übernehmen musste. Klare Ansage von ihm an seine SchülerInnen: „Ich habe ungefähr zwei Wochen Vorsprung vor euch. Wir lernen das zusammen.“ Womöglich sind wissenschaftliche MitarbeiterInnen also ganz froh, wenn gar nicht sooo viel von den Studierenden kommt und sorgen ohne böse Absicht, aber unterschwellig dafür.

Wer unsicher ist, kann sich beispielsweise die Formulierung wichtiger Fragen bereits vorab überlegen und auch aufschreiben. Das hat auch den Nebeneffekt, dass man sich klarer darüber wird, wonach man eigentlich fragen will. Diejenigen, deren Unsicherheit ein wenig anders gelagert ist, können auch an den Fragen selbst mit den Studierenden arbeiten, wie es Peter Addor vorschlägt.

Die Lernenden sind es nicht gewohnt, die rezeptive Rolle zu verlassen

Dieser Punkt kann der Spiegel des bereits genannten Punktes „Andere Lehrende stellen kaum Fragen oder verzichten auf Diskussionen“ sein. Muss er aber nicht. Bei einzelnen Lernenden kann es Schüchternheit sein, bei anderen ein kultureller Hintergrund. Neben den bereits vorgeschlagenen Maßnahmen kann es sehr hilfreich sein, im Einzelfall auf solche Studierenden individuell einzugehen. Im großen Maßstab ist das wohl kaum machbar, aber mehr Freiräume dafür kann man sich in der Präsenzphase beispielsweise mit dem Flipped Classroom verschaffen.

Die Lernenden sind unsicher

Vielleicht denkt man an diesen Aspekt gar nicht, aber mit Unschärfen und Fehlern souverän umgehen zu können, scheint mir in Deutschland eine unterentwickelte Fähigkeit zu sein. Trifft es nicht exakt, aber tatsächlich weist nach Geerd Hofstede die deutsche Kultur eine Tendenz zur Unsicherheitsvermeidung auf. Kommt dazu noch eine persönliche Neigung, die das Phänomen verstärkt, dann haben wir womöglich die Erklärung. Das könnt ihr nicht ändern! Ihr könnt aber die Rahmenbedingen beeinflussen, indem ihr sichere(re) Umgebungen schafft. Dazu findet ihr in Teil 2 bereits einige Hinweise wie Methoden, die das Prinzip (Listen)-Think-Pair-Share aufgreifen und vielleicht sogar noch eine Spur Anonymität erlauben. Das geht beispielsweise mit Audience-Response-Systemen wie EduVote (Ooooh, da fällt mir ein, zur didaktischen Handhabung der Dinger wollte ich auch mal was Längeres schreiben — soll ich? Kommentare spornen mich an :-) ).

Ändern könnt ihr außerdem auch hier wieder euch selbst. Wenn ihr mit gutem Beispiel vorangeht und eure eigene Unvollkommenheit nicht hinter einer Aura der Unfehlbarkeit versteckt, macht ihr euch das Leben einfacher.

Den Lernenden fehlt Wissen

Es kann schlicht sein, dass Lernenden trotz all eurer Bemühungen Wissen fehlt, um überhaupt eure Fragen beantworten zu können oder in die Diskussionen mit einzusteigen. Das bekommt ihr nur heraus, indem ihr euch immer wieder Raum dafür nehmt auch zu schauen, wo die Studierenden stehen. Dafür gibt es zahlreiche Wege, darunter die bereits erwähnten Audience-Response-Systeme, Self-Assessments, Übungsaufgaben, … Und dann gilt es zu entscheiden: „Verschiebe ich das Thema doch auf nächste Woche und lasse vorab noch dazu arbeiten? Diskutiere ich das jetzt wie geplant mit der ersten Hälfte, die das Thema offenbar ausreichend durchdrungen hat? Oder kann ich spontan etwas einbauen, um das Wissen der zweiten Hälfte aufzufrischen? Vielleicht sogar mit Hilfe der ersten?“ Das sind nur drei Möglichkeiten. Wer sich für die mittlere entscheidet, muss dann beispielsweise damit leben, dass nicht „alle“ mitmachen.

Die Lernenden haben kein Interesse

Auch diese Ursache ist denkbar, wenngleich sie mir allzu schnell als Pauschalerklärung herangezogen wird. Sie ist so schön einfach, nicht wahr? Und selbst, wenn dem so wäre, könnt ihr niemanden „interessiert“ machen. Ein Thema ist für euch womöglich das Spannendste der Welt — dann vermittelt doch, warum das für euch so ist statt nur die Inhalte. Friedemann Schulz von Thun — der mit dem Vier-Schnäbel/Ohren-Modell — widmete sich beispielsweise irgendwann in seiner Laufbahn mehr der Frage, welche Inhalte ihm etwas bedeuteten und was eigentlich. Indem er das „Seinige“ mit den Inhalten verband, wurden sie für die Studierenden interessant. Die Person, als die ihr dort vorne steht, ist nicht irrelevant; all der Objektivität in der Wissenschaft zum Trotz!

Auch andersherum geht das übrigens, darauf gehe ich gleich noch ein. Im Zweifel kann immer noch das helfen, was ich im ersten Beitrag unter „Back to Business“ angesprochen habe: Nicht einfach darüber hinweggehen, wenn ihr das Gefühl habt, da stimme etwas nicht. Zur Frage „Was (de)motiviert dich?“ bekommt man von Studierenden durchaus Antworten!


Weiter geht es am Freitag um 12:00 Uhr mit dem Teil zum Inhalt (ES) und zur Interaktion (WIR). Bis dahin freue ich mich auf eure Anregungen in den Kommentaren!

2 thoughts on “Niemand sagt etwas (in großen Gruppen)… Teil 3

  1. Die Ausführungen zum Problem “ Keine Reaktion auf Fragen“ finde ich sehr wichtig., besonders in Hinblick auf die Zielgruppe Wissenschaftliche Mitarbeiter.
    Aus meiner Arbeit mit Schülern, Studenten und Referendaren kenne ich das Problem. Besonders hilfreich finde ich den Tipp „Think-Pair-Share“. Diese Methode muss als Grundprinzip eingeführt werden und verlässlich mit jeder echten Frage verbunden werden, sodass sich im Idealfall alle Teilnehmer nach kurzer Stille (Think) zum jeweiligem Nachbarn umdrehen, sich austauschen (Pair) und man nach weiterer kurzer Zeit Wortmeldungen erwarten kann (Share). Das Share erhöht die Verbindlichkeit von Think und Pair und andersherum erhöhen das Think und Pair die Aktivität aller Teilnehmer und gibt Ihnen eine Sicherheit vor einem Wortbeitrag.

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