Einige Monate bin ich zwar der Debatte hinterher, aber nun habe ich Die Mutter des Erfolgs (Originaltitel: Battle Hymn of the Tiger Mother) von Amy Chua gelesen – getreu dem Ausspruch
Unter die größten Entdeckungen, auf die der menschliche Verstand in den neuesten Zeiten gefallen ist, gehört meiner Meinung nach wohl die Kunst Bücher zu beurteilen, ohne sie gelesen zu haben.
von Georg Christoph Lichtenberg aus dem 18. Jahrhundert. Worum geht es dabei?
Amy Chua ist die Tochter chinesischer Einwanderer in den USA und wurde sehr streng und leistungsorientiert erzogen. Es galt stets die Beste zu sein, andernfalls waren ihre Eltern nicht zufrieden und forderten mehr. Sie nutzte denselben autoritären Erziehungsstil bei ihren beiden Töchtern Sophia und Louisa. Beide wurden unter Strafandrohungen und manchmal auch folternahen Methoden (Verbot des Trinkens) zum Musizieren gezwungen und hart gedrillt, der gesamte Alltag danach ausgerichtet, haarklein vorgeschrieben, wie der Übungsablauf auszusehen habe. Bei Freundinnen übernachten, Computerspielen oder im Schultheater mitspielen? Waren nicht drin.
All das beruht auf verschiedenen Prämissen: Der Gedanke „wer nicht das mache, was die Eltern (oder höher Gestellte) sagen, renne unweigerlich ins Verderben“ entstammt vermutlich der kulturellen Prägung des Konfuzianismus. Die Aussage, Kinder hätten grundsätzlich keine Lust, sich anzustrengen, erinnert an die Menschenbildtheorie X nach Douglas McGregor. Woher der Gedanke „Spaß macht gar nichts, solange man nicht gut darin ist“ (S. 35) stammt, wüsste ich nicht (und könnte es auch anhand vieler Beispiele widerlegen), aber er beleuchtet den Hintergrund. Nun kann man davon halten, was man will, das Vorgehen von Frau Chua scheint jedenfalls ausgehend davon konsistent zu sein und keinesfalls ein Beleg dafür, dass sie ihre Kinder nicht liebt! Sie will das aus ihrer eigenen Sicht Beste für sie – und bei sehr kulturell geprägten Themen bin ich eher zurückhaltend, wenn ich darin keine tieferen Einblicke habe.
Einen gewissen Erfolg kann man der Methode ja auch nicht absprechen: Beide Kinder sind überaus begabte Musikerinnen. Auch werden die exzellenten Schulnoten angeführt und als Beispiel das hervorragende Abschneiden in Multiplikationsgeschwindigkeitstest genannt. Wenn man sich das anschaut, stellt man allerdings fest: Reproduktion und fest vorgegebenen Abläufe. Auf sehr hohem Niveau zwar, aber irgendwie schimmert da der Mensch als Automat durch. Sie selbst sagt von sich: „Auch war ich keine, die von Natur aus skeptisch ist und hinterfragt; ich wollte einfach alles mitschreiben, was der Professor sagte, und auswendig lernen.“ (S. 38).
Erlebt habe ich das schon selbst: Sieht man von einem denkbaren Sprachproblem ab, können Studierende mit asiatischem Hintergrund oft phänomenal die Stichpunkte der Vorlesungsfolien meines Chefs in den Klausuren runterbeten, allerdings scheitern sie dennoch häufig an Anwendungs- oder Transferaufgaben. Gerade vor kurzem erst hatte ich ein Gespräch mit einem Studenten asiatischer Herkunft. Seine Eltern hätten ihm immer Ziele vorgegeben, er kommt nun aber gar nicht mit der Freiheit klar, dass er selbst Ziele setzen darf und soll. Selbst eine Fragestellung für eine Abschlussarbeit zu entwickeln und zu formulieren, der er dann nachgehen kann, fiele ihm schwer.
Was in Bezug zu dieser Problematik in der Berichterstattung häufig vernachlässigt wurde, sind die Zweifel, die Frau Chua selbst kamen und letztlich der Beweggrund für das Schreiben des Buches waren. Sie geht zwar nicht im Detail darauf ein, berichtet aber, wie ein Geigenlehrer mit einer sanften Methode erfolgreicher war als sie selbst – bei gleichen inhaltlichen Vorgaben. Als sie ihr Mathestudium abbrach, war sie selbst froh, dass ihre Eltern sie nicht quälten, sondern eine Überforderung attestierten. Der eigentliche Punkt, um den sich das Buch dreht, sind aber die Probleme mit Tochter Louisa. Zwar wurde sie eine sehr gute Violinistin, aber sie fühlte sich unverstanden und rebellierte mit der Zeit immer stärker gegen die Erziehungsmethode von Frau Chua. Als diese ihre Mutter um Rat ersuchte, erhielt sie für sie unverständlicherweise die Antwort: „Die Zeiten haben sich geändert. Und Lulu ist nicht du.“ (S. 186). Davon unbeeindruckt blieb sie stur, gab jedoch zu: „In chinesischen Familien ist dieses Problem nicht vorgesehen, und ich hatte keine Lösung.“ (S. 190)
Erst als es zu einem großen Knall kam, gab sie nach. Louisa wurde nicht weiter zum Geigespiel gezwungen und durfte stattdessen Tennis spielen, wie sie es sich gewünscht hat. Trotz fehlenden Drills durch fremde Personen hat sie sich wohl zum Erstaunen von Frau Chua zu einer passablen Tennisspielerin entwickelt, die sich selbst motiviert. Sie ist offenbar nicht weltklasse, aber hat trotzdem Spaß.
Was ich mit den Ausführungen nicht sagen will ist „Siehst’e, hat sie alles falsch gemacht“ – das glaube ich nämlich nicht. Beim Tennislernen schien ihre Tochter die Lehrer etwa durch hohe Selbstdisziplin zu beeindrucken. Und Frau Chua hat sich vor allem sprichwörtlich den Arsch aufgerissen. Sie hat nicht nur viel gefordert, sondern auch extrem gefördert! Sie hat nicht einfach übermäßig hohe Ziele gesetzt und dann gesagt: „Sieh zu, wie du sie erreichst. Ich habe damit nichts zu tun, das ist deine Aufgabe.“ Sie hat sich ebenso dafür verantwortlich gefühlt und sich reingehängt – allerdings wohl etwas zu sehr. Und das hatte unerwartete Konsequenzen, die sie selbst nicht ganz einsortieren konnte.
Kurzum: Das Buch lässt sich zwar oberflächlich auch als uneingeschränkter Appell für eine „chinesische“ Erziehung lesen, aber auf mich macht es eher den Eindruck, als sei sie trotz anders lautender Bekundungen nicht (mehr) so ganz davon überzeugt. Therapeutisches Schreiben umschreibt es daher vielleicht eher.