Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich zum ersten Mal einen Workshop zur Gesprächsführung mitgeleitet. Dabei ist mir das folgende Problem aufgefallen: Übungssituationen wirken mitunter künstlich, aber es gibt die Möglichkeit, von anderen Feedback zu erhalten. In der Praxis hat man später ein echtes Szenario und kann Dinge ausprobieren, kann aber eigentlich kein Feedback erhalten. Ich habe mich also gefragt, geht nicht vielleicht auch beides? Lassen sich echte Situation und Chance auf Rückmeldungen kombinieren und gleichzeitig noch zusammen mit anderen etwas lernen? Herausgekommen ist die Idee zur Methode, die ich Schillerstraße getauft habe – wenngleich sie von Christian Spannagel in Workshop-Party umbenannt wurde, was ich viel schöner finde. [Ergänzung am 19.02.2014: Mir kam beim Nachdenken dazu der Blogbeitrag Leidensdruck als Erkenntnismotor von Jean-Pol Martin in den Sinn.]
Schillerstraße in a nutshell
TeilnehmerInnen erhalten einen oder mehrere Geheimaufträge, die sie in einem bestimmten Zeitraum erfüllen sollen, ohne dabei entdeckt zu werden. Nachdem die Zeit abgelaufen ist, offenbaren alle ihre Missionen und lassen sich nach Möglichkeit von anderen bestätigen, dass sie den Auftrag wirklich ausgeführt haben. Speziell für Lehrsituationen bieten sich an dieser Stelle weiterführende Diskussionen an.
Schillerstraße in action
Diese und vergangene Woche hatte ich nun erstmals die Gelegenheit, Workshops zur Gesprächsführung selbst zu gestalten. Da habe ich es mir es nicht nehmen lassen, mit der Schillerstraße zu experimentieren.
Der Workshop ist für zwei Tage ausgelegt. Er ist der dritte in einer Reihe von vieren, die im Rahmen der Basisqualifizierung von teach4TU absolviert werden können. Teilgenommen haben in der ersten Gruppe acht Personen, in der zweiten zehn (die Gruppen waren in diesem Durchlauf etwas kleiner als die sonst bei uns üblichen 14 Personen). Dabei handelt es sich durchgängig um wissenschaftliche MitarbeiterInnen der TU Braunschweig.
Am ersten Tag haben wir verschiedene Themen behandelt und teilweise auch üben lassen, etwa Aktives Zuhören oder verschiedene Arten zu fragen. Das wussten wir vorher und hatten schon passende Aufträge für die Schillerstraße im Gepäck. Wir haben aber auch Themen aufgegriffen, die von den TeilnehmerInnen genannt wurden, und auch daraus noch ad hoc Fragen erstellt und gesammelt. Beispiel: Wir starteten den Tag mit einer Einführungsrunde im Plenum, in der die TeilnehmerInnen von ihren Lehrerfahrungen im gerade abgelaufenen Semester berichteten. Da konnten wir andocken. Alle erhielten zwei Missionen, von denen sie mindestens eine erfüllen sollten. So sollte etwas Wahlfreiheit bleiben, falls jemand mit einer Aufgabe wirklich gar nichts anfangen könnte.
In der ersten Gruppe haben wir die geheimen Missionen bereits am Ende des ersten Tages verteilt, damit sich alle schon Gedanken machen können. Das hat sich aber nicht als praktikabel erwiesen. Trotz Hinweisen am zweiten Tag hatte nur einer der acht TeilnehmerInnen einen Auftrag erfüllt. Das aber mit Bravour! Er sollte in Gesprächen mit öffnenden und schließenden Fragen experimentieren und beobachten, was passiert. Tatsächlich kam er zu dem Schluss, dass öffnende Fragen mehr aus den Leuten herauslocken können als geschlossene.
In der zweiten Gruppe haben wir die Schillerstraße am Morgen des zweiten Tags gestartet und zusätzlich „Straßenschilder“ aufgehängt, um immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass da ja nebenbei noch etwas zu erledigen ist. Hat in meiner Wahrnehmung prima funktioniert, und auch das Feedback war positiv. Einige äußerten zwar, Bedenken gehabt zu haben, weil sie sich komisch beim Ausführen ihrer Aufträge vorkamen [Ergänzung am 19.02.2014: Jemand, könnte sich schließlich veralbert vorkommen, wenn jemand an ihm Fragearten oder Aktives Zuhören ausprobiert]. Tatsächlich ist aber niemandem etwas aufgefallen – nicht einmal bei Aufgaben, bei denen gerade das vermutet wurde. Eine Teilnehmerin sollte etwa mindestens fünf Minuten lang die Körperhaltung einer anderen Person spiegeln. Sie hat nicht nur das getan, sondern im Laufe des Tages wohl alle einmal gespiegelt, und niemand hat es bemerkt. Ein Teilnehmer hat allerdings angemerkt, er habe das verbale Spiegeln in der Mittagspause eine Minute lang bei einem Kollegen ausprobiert, und der hielt ihn für begriffsstutzig. Kann auch passieren. Kritik kam außerdem noch an den Aufträgen auf – es hätten mehr Spaßmissionen dabei sein dürfen :-)
In Summe: Es gibt die Möglichkeit, in realen Gesprächen beispielsweise Fragetechniken auszuprobieren und in der Feedbackrunde am Ende auch noch zu erfragen, was das Gegenüber in der Situation gedacht hat. Und wie wir gleich feststellen werden, gibt es auch Einsatzmöglichkeiten jenseits der Gesprächsführung.
Die Fragen
Je nach Ziel sind zig Aufträge denkbar. Ohne sie „streng“ klassifizieren zu wollen, präsentiere ich ein paar Ideen und Beispiele. Ist (wie immer) nicht alles klar zu trennen. An dieser Stelle greife ich übrigens einige Fragen auf, die Christian Spannagel gerade gestern ausprobiert hat.
Selbst etwas tun
- Spiegele jeweils eine Minute lang drei Personen durch Paraphrasieren und nonverbale Bestätigung, ohne dass sie er merken.
- Experimentiere in Gesprächen mit öffnenden und schließenden Fragen und beobachte, was sich daraus ergibt.
- Imitiere die Körperhaltung eines anderen Teilnehmers/einer anderen Teilnehmerin fünf Minuten lang, ohne dass es auffällt.
- Erkläre einer Person unauffällig Thema X, ohne dass sie Verdacht schöpft. [zur Wiederholung nach dem Prinzip Lernen durch Lehren]
Andere zu etwas bewegen
- Überzeuge eine andere Person davon, dich in einer deiner zukünftigen Veranstaltungen zu besuchen, um dir Feedback zu deiner Gesprächsführung zu geben.
- Erkläre einer anderen Person, dass du den Workshop total langweilig findest – und versuche, sie auf deine Seite zu ziehen.
- Bringe eine Person dazu, dir Thema X noch einmal aus ihrer Perspektive zu erklären. [passt gleichzeitig zum Wiederholen von Themen].
Etwas aus anderen herausholen
- Verwickle eine Person deiner Wahl unauffällig in ein Gespräch über Thema X und hole ihre Meinung dazu ein.
- Verwickle jemanden in ein Gespräch über seine/ihre Lehre im vergangenen Semester und finde heraus, welche Methode er/sie am liebsten einsetzt.
- Bringe jemanden dazu, die von ihrem/seinem schönsten Erlebnis in der Lehre zu berichten. Versuche, mit geeigneten Fragen möglichst viel darüber herauszufinden.
Kommunikationsanreger und Vernetzer
- Bringe in einer Plenumsrunde den folgenden kritischen Einwand ein: „XYZ„.
- Tausche mit einem dir unbekannten Workshop-Teilnehmer Telefonnummern aus.
- Verbinde dich mit mindestens drei Personen auf Twitter, Facebook, Google+, Xing, usw.
- X hat vorhin/gestern über Thema Y berichtet. Lass dir dazu Z noch einmal erklären.
Spaßaufgaben
- Wirf in einer Plenumsrunde Begriff X ein, ohne dass es auffällt.
- Jemand zweites aus deinem Team hat dieselbe Karte wie du. Findet euch durch Augenzwinkern.
- Versuche, den Text “XYZ” auf dem Präsentationsrechner erscheinen zu lassen.
- Biete so lange anderen Workshop-Teilnehmern ein Kaugummi an, bis einer “ja” sagt, um dann festzustellen, dass du keins in der Tasche hast.
Variationsmöglichkeiten
Je nach Gestaltung der Workshops gibt es (natürlich) zahlreiche Variationsmöglichkeiten. Christian Spannagel hat beispielsweise Punkte vergeben und hätte SiegerInnen gekürt – wenn es nicht ein unentschieden gegeben hätte :-) Außerdem ist es denkbar, wie bei ihm zwei (oder mehr?) Teams zu bilden. Toll fand ich auch die Idee, die Missionen unter die Stühle zu kleben. Bei uns gab’s halt „versiegelte Briefe“. Wie Christians Beispiel zeigt, ist die Schillerstraße auch an Ein-Tages-Workshops durchführbar, wenngleich dann natürlich nicht auf Themen zurückgegriffen werden kann, die vorher behandelt wurden. Was ich mir auch vorstellen kann, ist es Personen (auch) gezielt bestimmte Aufträge zu erteilen, wenn man die Leute kennt. So können sie vielleicht an ihren Schwachstellen arbeiten. Und, und, und…
Am Ende der Straße
Ich mag die Methode und werde sie künftig auch mal in anderen Workshops einsetzen und damit experimentieren. Was haltet ihr von der Schillerstraße? Welche Missionen oder Auftragsarten fallen euch noch ein? Wollt ihr die Methode nicht selbst einmal ausprobieren???
Update am 04.09.2014
Kirsten Will (TU Braunschweig) hat die Schillerstraße ausprobiert und ihre Eindrücke dokumentiert.
Es war einfach nur eine geile Idee von dir! Das hat so einen Spaß gemacht, ich bin „angefixt“! :-)
Ich sage einfach nur „Leidensdruck als Erkenntnismotor“ http://jeanpol.wordpress.com/2009/09/04/leidensdruck-als-erkenntnismotor/
Ich sag hier auch noch einmal, dass ich es toll finde, damit ich Benachrichtigungen für Kommentare erhalte :)
Ohne Frage ist das eine schöne Idee, „herkömmliche“ Workshops aufzufrischen! Zwei Sätze machen mich stutzig, weil sie einen Widerspruch offenbaren:
„Einige äußerten zwar, Bedenken gehabt zu haben, weil sie sich komisch beim Ausführen ihrer Aufträge vorkamen.“ und
„Kritik kam außerdem noch an den Aufträgen auf – es hätten mehr Spaßmissionen dabei sein dürfen.“ – Einerseits werden einige Aufträge als „komisch“ empfunden und andererseits soll noch mehr Spaß in die Angelegenheit getragen werden. Das klingt ein wenig danach, als wolle ich belustigt werden, mich aber keinesfalls zum Affen machen. Wie bekommt man die Balance hin, zu sagen: Die Welt geht nicht unter, wenn andere über mich lachen, sondern sie wird dadurch evtl. sogar etwas fröhlicher?
Ich präzisiere das im Text noch. Das komische Gefühl rührte nicht von den Spaßaufgaben her, sondern von den praktischen Aufträgen wie „Experimentieren mit Fragearten“ oder „Ausschließliches Spiegeln“. Das hätte ja auch aufgesetzt wirken können und andere hätten sich dann womöglich veralbert gefühlt. In der Abschlussrunde kam aber heraus, dass wirklich niemand etwas davon bemerkt hatte.
Gibt es Erklärungsversuche warum das frühe Austeilen in der ersten Gruppe nicht praktikabel war?
Vielleicht liegt es einfach an den jeweiligen Personen, dass „Schillerstrasse“ in Gruppe 2 besser funktioniert hat?
VG André
Ein direkt genannter Grund: Schlicht vergessen, die Missionen am zweiten Tag wieder mitzubringen. Ob sich wirklich jemand gedanklich damit beschäftigt hat, weiß ich nicht.
Klar, kann auch an den Personen gelegen haben. Willkommen in der Welt der Methodenvergleiche und -forschung: http://cspannagel.wordpress.com/2011/02/06/welche-methode-ist-die-effektivere/
Je mehr ich mich mit der Idee beschäftige, desto interessanter finde ich sie. Wie hast du es umgesetzt? Haben die Teilnehmer vorher gesehen, in welchem Team sie waren? Wenn ja macht das einige Aufgaben in der Erfüllung einfacher, was vielleicht auch ganz gut ist, angesichts der nicht eingelösten Aufgaben.
Bei mir gab’s keine Teams — jeder gegen jeden :-) Christian hat Teams bilden lassen, aber zufällig. Wüsste aber nicht, weshalb das nicht auch vorher festgelegt werden könnte.
Das mit dem Punktegewinnen habe ich bisher nie „streng“ ausgewertet. Ging mir ja eher um die Ergebnisse: beispielsweise die Rückmeldungen, was beim Experimentieren mit verschiedenen Fragearten beobachtet wurde. Oder wer wem wie zugezwinkert hat :-)
Was hälst Du eigentlich von Schillerstraße meets EduCamp? ^^
Du meinst als Session (ist eingeplant) oder ins Camp integriert?
Eigentlich meinte ich integriert :) Als Session mit Do’s und Don’ts sicher auch super (vor allem im Nachgang zu einer Integration: vormittags machen lassen, nachmittags reden oder so)
Schlag’s nicht mir vor :-) Aber beim EduCamp geht ja auch „alles“ spontan und jeder darf mitorganisieren und was einbringen…
Ich würde vermuten, dass das auf dem Educamp nicht so gut funktioniert, weil da die Gruppe wesentlich größer ist (150 Menschen?). Man kann schlecht 150 Aufträge verteilen. In kleinen Seminaren ist ja schön, dass es viele Diskussionsrunden gibt, in deren Rahmen Teilnehmer auch ihre Aufträge erfüllen können. Beim EduCamp könnte so etwas nur in der Gesamtrunde passieren (eher weniger geeignet) oder in Sessions (wo es nur wenige mitbekommen)…
Vielleicht hatte Anja ja schon eine konkrete Idee, wie man die Schillerstraße anpassen könnte?
(irgendwie kann ich nicht auf den untersten Eintrag antworten, folgende Ideen aus 0 Erfahrung heraus)
Die Verteilung könnte morgens bei der Session-Planung mit passieren: Man stellt die Session kurz vor, gibt ein Behältnis mit Auftragslosen rum und wer will, kann sich eins nehmen. Für die Auswertungssesssion (in der dann auch das gesamte Konzept vorgestellt wird) kommen Interessierte dann zusammen und berichten von Ihren Erfahrungen beim Auftrag Absolvieren. Wenn man will, kann man jemanden, der das Absolvieren „mitbekommen“ hat, das Schnipselchen ja auch signieren lassen, aber ev. geht es mehr um die Selbsterfahrung (wie gesagt: habe keine Erfahrung mit dem Konzept), von der man berichten kann. Die Aufträge können in den Sessions oder auch den Kaffeepausen absolviert werden. Ja? Nee? Vielleicht? Hab nur keine Ahnung, wie man aufwandsarm Lose bastelt/Aufträge verteilt. Ausdrucken und auseinanderschneiden?
Na, dann würde ich sagen: ausprobieren! :) …. Eine Alternative zum Ausdrucken und Ausschneiden sehe ich nicht… Oder vielleicht in Kombi mit Lucis Vorschlag: jeder schickt einem anderen Teilnehmer per Twitter-DM einen Auftrag?
Als Einzelner kann man vielleicht nicht 150 Aufträge verteilen, aber witzig wäre, wenn sich anhand von Beispielen jeder selber einen Auftrag ausdenkt und diesen im Verlauf des Tages an andere weiter gibt. Den von Anja vorgeschlagenen Rahmen kann man dabei auch nutzen. Also, am Anfang über das Spiel informieren und zum Schluss auswerten, was wie funktioniert hat. Wenn man die Aufträge zum Schluss gut sichtbar sammelt, hat jeder viele neue Anregungen.
Gute Idee! Die Aufträge könnten von den Teilnehmern auch per Twitter DM an andere weitergegeben werden..,
Twitter-DM ist eine gute Idee ABER man muss sich folgen UND es schließt nicht-Twitterer aus. Aber die Variante, dass sich jeder einen Auftrag ausdenkt und auf nen Zettel schreibt löst schonmal das „das muss dann alles der SessionV machen“-Problem.
Was haltet Ihr denn von folgender Spielregel? Die Aufträge dürfen nur an Unbekannte weiter gegeben werden. Zwecks Kennenlernen und Vernetzung und so – oder wie läuft das sonst bei einem Educamp?
Oder gibt es dort die Twitternamen aller Teilnehmer irgendwo, damit man die DM an Leute versenden kann, die man nicht kennt? Kann man Unbekannten überhaupt eine DM senden? Fragen über Fragen …