Gestern habe ich wieder gelernt, wie schön und wertvoll Vernetzung sein kann: Vor einigen Monaten habe ich über Twitter Christian Spannagel kennengelernt, der an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg Mathematik, Informatik und deren Didaktik lehrt. Ich habe ihn besucht und mir sein „Aktives Plenum“ in drei verschiedenen Vorlesungen angesehen. Wie muss man sich das vorstellen?
Die Veranstaltungen sind in drei Teile gegliedert: Zu Beginn führt Christian in dozentenzentrierten aber nicht notwendigerweise frontalen Phasen in das Thema ein. Er beantwortet Verständnisfragen zu Texten, die als Vorbereitung gelesen werden mussten – oder er spiegelt diese zurück ins Plenum, so dass die Teilnehmer die Antwort geben.
Die nächste Phase ist dann das Besondere, das „Aktive Plenum“, deren Ausgangspunkt unterschiedlich gestaltet sein kann:
- Die Studierenden hatten zusätzlich zum zu lesenden Text eine Aufgabe erhalten, die sie zur Vorbereitung bearbeiten sollten.
- Die Studierenden erhalten Aufgaben, die sie zunächst innerhalb der Veranstaltung allein oder in Zweiergruppen bearbeiten.
- Die Studierenden erhalten Aufgaben, die sie ad hoc beantworten sollen.
Je nach Zahl der Teilnehmer begeben sich dann ein oder zwei (möglichst) Freiwillige nach vorne. Sie beantworten nicht selbst die Fragen, sondern moderieren bloß und dokumentieren an der Tafel, was Ihnen durch das Plenum mitgeteilt wird. Christian hält sich dabei bewusst im Hintergrund und greift nur ein, wenn es nötig ist. Er lässt bewusst auch Freiraum für Irrwege oder kurzes Stocken des Flusses an Beiträgen – dabei den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, ist schwierig und erfordert Erfahrung. Ich beobachtete, wie sich fast durchgängig rege Beteiligung unter den Studierenden entwickelte: Es wurden eigene Ideen eingebracht, andere hinterfragt oder Fragen von anderen direkt von den Studierenden Schritt für Schritt gemeinsam beantwortet. Christian streut nur dann zusätzlichen Input sparsam ein, wenn er notwendig ist, um den Prozess in Gang zu halten. Nachdem die Fragestellungen für ihn UND das Plenum ausreichend beantwortet sind, schließt sich eine weitere solche Runde an, und andere Studierende übernehmen das Ruder.
Als Abschluss fasst Christian die wichtigsten Punkte zusammen und erläutert, wie es in der nächsten Veranstaltung weitergeht.
Wie war mein Eindruck?
Es wird gefühlt deutlich weniger Inhalt „durchgenommen“ als in einer „normalen“ Vorlesung, das bereitete mir zunächst Bauchschmerzen. Der Unterschied liegt darin begründet, dass im aktiven Plenum klar Anwendung, Transfer und problemlösendes Denken im Vordergrund stehen. Es hat also eher Übungscharakter: Studenten lernen, mit dem Wissen umzugehen, statt es bloß anzuhäufen. Der Stoff wird allerdings nicht vernachlässigt, sondern bereits zu Hause vorbereitet, indem ausgewählte Texte gelesen und bearbeitet werden. Wer dies nicht erledigt, kann schlechter mitarbeiten, ist allerdings auch selbst dafür verantwortlich.
Im Vergleich zu den „normalen“ Vorlesungen, die ich kenne, gibt es eine viel ausgeprägtere Beteiligung der Studierenden, also offenbar eine stärkere Aktivierung. Außerdem treten Probleme ans Licht, die man sonst nicht hätte beobachten und angehen können. An einer Stelle änderte Christian zum Beispiel spontan den geplanten Lauf der Veranstaltung, um zu einem bestimmten Thema eine zusätzliche Übung durchzuführen – damit wichtige Begriffe verstanden werden und „sitzen“. Im Vordergrund steht demnach nicht, einen zuvor festgelegten Inhalt unbedingt durchzupeitschen, sondern bei Bedarf kann auch auf etwas verzichtet werden. Qualität geht vor Quantität.
Das Konzept gefällt mir gut, ich werde es auf jeden Fall ausprobieren. Ich frage mich aber noch, ob es sich 1:1 auf betriebswirtschaftliche Fächer wie Marketing oder Unternehmensführung übertragen lässt. Dort geht es manchmal bis öfter einfach schlicht um das Auswendiglernen, und es gibt in den seltensten Fällen ein klares „richtig“ oder „falsch“. Ohne stärkeres Eingreifen durch den Lehrenden oder sehr eng gesteckte Aufgaben wird es möglicherweise schwierig, zum Kern einer Sache vorzudringen. Es besteht die Gefahr einer fachlich netten, aber wenig zielführenden Diskussion – kann zum Beispiel auch bei Fallstudien passieren. Muss man ausprobieren. In jedem Fall dürfte aber die Schlussphase, die Zusammenfassung der wichtigsten Punkte (beziehungsweise die Linearisierung a posteriori), besonders wichtig sein und mehr Raum erfordern.
Vielen Dank für diesen schönen Bericht!
„Es wird gefühlt deutlich weniger Inhalt “durchgenommen” als in einer “normalen” Vorlesung, das bereitete mir zunächst Bauchschmerzen. Der Unterschied liegt darin begründet, dass im aktiven Plenum klar Anwendung, Transfer und problemlösendes Denken im Vordergrund stehen.“ – Genau. Mir kommt es darauf an, dass die Studierenden lernen mathematisch zu denken. (Man nennt diesen Ansatz auch „Teaching Thinking“). Falls dich das näher interessiert, hier ist ein Artikel dazu: http://tinyurl.com/y85b4jc
Viele Grüße,
Christian
@Christian
Danke für das Feedback! Und danke für die Gelegenheit, die ganzen Einblicke zu bekommen. Uuund natürlich interessiert mich das, kommt auf meine Leseliste für das Wochenende.